Mittwoch, 18. Juni 2008
Einsamkeit
Am Mittwoch, 18. Jun 2008 im Topic 'Literaturkostproben'
Ist es so, dass alles, was wir tun, aus Angst vor Einsamkeit getan wird? Ist es deswegen, dass wir auf all die Dinge verzichten, die wir am Ende des Lebens bereuen werden? Ist das der Grund, weshalb wir so selten sagen, was wir denken? Weshalb sonst halten wir an all diesen zerrütteten Ehen, verlogenen Freundschaften, langweiligen Geburtstagsessen fest. Was geschähe, wenn wir all das aufkündigten, der schleichenden Erpressung ein Ende setzten und zu uns selbst stünden, wenn wir unsere geknechteten Wünsche und die Wut über ihre Versklavung hochgehen ließen wie eine Fontäne? Denn die befürchtete Einsamkeit - worin besteht sie eigentlich? In der Stille ausbleibender Vorhaltungen? In der fehlenden Notwendigkeit, mit angehaltenem Atem über das Minenfeld ehelicher Lügen und freundschaftlicher Halbwahrheiten zu schleichen? In der Freiheit, beim Essen niemandem gegenüberzuhaben? In der Fülle der Zeit, die sich auftut, wenn das Trommelfeuer der Verabredungen verstummt ist? Sind das nicht wundervolle Dinge, ein paradiesischer Zustand? Weshalb also die Furcht davor? Ist es am Ende eine Furcht, die nur besteht, weil wir ihren Gegenstand nicht durchdacht haben? Eine Furcht, die uns von gedankenlosen Eltern, Lehrern und Priestern eingeredet worden ist? Und warum sind wir eigentlich so sicher, dass uns die anderen nicht beneideten, wenn sie sähen, wie groß unsere Freiheit geworden ist und dass sie daraufhin unsere Gesellschaft suchten?
Auszug aus dem Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier
Auszug aus dem Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier
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Ein echter Abschied müsste eine Begegnung sein
Am Mittwoch, 18. Jun 2008 im Topic 'Literaturkostproben'
Was unterscheidet einen ehrlichen von einem feigen Abschied? Ein ehrlicher Abschied - das wäre der Versuch, mit dir zu einem Einverständnis darüber zu gelangen, wie es mit uns, mit dir und mir gewesen ist. Denn das ist der Sinn eines Abschieds im vollen, gewichtigen Sinne des Worts: dass sich die beiden Menschen, bevor sie auseinandergehen, darüber verständigen, wie sie sich gesehen und erlebt haben, was zwischen ihnen geglückt und was misslungen ist. Dazu gehört Furchtlosigkeit: Man muss den Schmerz über Dissonanzen aushalten können. Es geht darum, auch das, was unmöglich war, anzuerkennen. Sich zu verabschieden, das ist auch etwas, das man mit sich selbst macht: zu sich selbst stehen unter dem Blick des Anderen. Die Feigheit des Abschieds dagegen liegt in der Verklärung: in der Versuchung, das Gewesene in goldenes Licht zu tauchen und das Dunkle wegzulügen. Was man dabei verspielt, ist nichts weniger als die Anerkennung seiner selbst in denjenigen Zügen, die das Dunkel hervorgebracht haben.
Auszug aus dem Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier
Auszug aus dem Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier
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Dienstag, 17. Juni 2008
An alle meine betroffenen Freundinnen und Leidensgenossinnen
Am Dienstag, 17. Jun 2008 im Topic 'Literaturkostproben'
Normalerweise ruft ein Mann eine Frau, mit der er zum ersten Mal Sex gehabt hat, drei Tage später an. Im Regelfall am Abend. Ruft er sie vorher an, ist er eine Memme oder uneingestandener Homosexueller, der nach einem Mutterersatz sucht.
Spätestens ruft er sie an dem auf den Geschlechtsverkehr folgenden Wochenende an. In dem Fall, dass der intime Kontakt an einem Freitag, Samstag oder Sonntag stattgefunden hat, kann er sich auch bis zum nächsten Freitag oder Samstag Zeit lassen.
Wenn zwischen dem Sex und dem nichterfolgten Anruf
a) ein Wochenende oder
b) drei Wochentage liegen,
dann kannst du
a) die Sache vergessen und dir einen Neuen suchen oder
b) ihn anrufen.
Wenn du ihn anrufst, hast du zwei mögliche Zielsetzungen:
1) Ihn doch noch für dich zu gewinnen. Die Erfolgsquote liegt bei 0,5%. Er wird dir von seinem vollen Terminkalender vorquatschen und sagen, dass er in den nächsten dreieinhalb Jahren leider sehr wenig Zeit hat. Lass es also, es lohnt den Aufwand nicht, und du fühlst dich nachher total beschissen. Du fühlst dich zwar sowieso beschissen, aber hier geht es um Nuancen.
2) Du rufst ihn an um ihm zu sagen, was für ein blödes Arschloch er ist und um deinen Ärger loszuwerden. Die Erfolgsquote liegt bei 98%. Du machst deinem Frust Luft und entlastest deinen Freundeskreis, der sich die nächsten acht Wochen keine "Hätte ich ihm doch bloß gesagt, dass...."-Geschichten anhören muss. Der Typ fühlt sich ein bisschen schlecht, mindestens drei, höchstens vier Minuten lang.
(Auszug aus dem Buch "Mondscheintarif" von Ildikó von Kürthy) schmunzel-schmunzel-wusst ichs doch
Spätestens ruft er sie an dem auf den Geschlechtsverkehr folgenden Wochenende an. In dem Fall, dass der intime Kontakt an einem Freitag, Samstag oder Sonntag stattgefunden hat, kann er sich auch bis zum nächsten Freitag oder Samstag Zeit lassen.
Wenn zwischen dem Sex und dem nichterfolgten Anruf
a) ein Wochenende oder
b) drei Wochentage liegen,
dann kannst du
a) die Sache vergessen und dir einen Neuen suchen oder
b) ihn anrufen.
Wenn du ihn anrufst, hast du zwei mögliche Zielsetzungen:
1) Ihn doch noch für dich zu gewinnen. Die Erfolgsquote liegt bei 0,5%. Er wird dir von seinem vollen Terminkalender vorquatschen und sagen, dass er in den nächsten dreieinhalb Jahren leider sehr wenig Zeit hat. Lass es also, es lohnt den Aufwand nicht, und du fühlst dich nachher total beschissen. Du fühlst dich zwar sowieso beschissen, aber hier geht es um Nuancen.
2) Du rufst ihn an um ihm zu sagen, was für ein blödes Arschloch er ist und um deinen Ärger loszuwerden. Die Erfolgsquote liegt bei 98%. Du machst deinem Frust Luft und entlastest deinen Freundeskreis, der sich die nächsten acht Wochen keine "Hätte ich ihm doch bloß gesagt, dass...."-Geschichten anhören muss. Der Typ fühlt sich ein bisschen schlecht, mindestens drei, höchstens vier Minuten lang.
(Auszug aus dem Buch "Mondscheintarif" von Ildikó von Kürthy) schmunzel-schmunzel-wusst ichs doch
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Donnerstag, 5. Juni 2008
Wenn die Zeit knapp wird
Am Donnerstag, 5. Jun 2008 im Topic 'Literaturkostproben'
"Wenn die Zeit eines Lebens knapp wird, gelten keine Regeln mehr. Und dann sieht es aus, als sei man übergeschnappt und reif für die Klapsmühle. Doch im Grunde ist es umgekehrt: Dort gehören diejenigen hin, die nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit knapp wird. Diejenigen, die weitermachen, als sei nichts. Verstehen Sie?"
"Vor zwei Jahren hatte ich einen Herzinfarkt", sagte Filipe. "Ich fand es sonderbar, danach wieder zur Arbeit zu gehen. Jetzt fällt es mir wieder ein, ich hatte es ganz vergessen."
"Ja", sagte Gregorius.
Auszug aus dem Buch von Pascal Mercier "Nachtzug nach Lissabon"
"Vor zwei Jahren hatte ich einen Herzinfarkt", sagte Filipe. "Ich fand es sonderbar, danach wieder zur Arbeit zu gehen. Jetzt fällt es mir wieder ein, ich hatte es ganz vergessen."
"Ja", sagte Gregorius.
Auszug aus dem Buch von Pascal Mercier "Nachtzug nach Lissabon"
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Montag, 26. Mai 2008
Die Macht der Worte
Am Montag, 26. Mai 2008 im Topic 'Literaturkostproben'
Und plötzlich, mit einem Erschrecken, das ich sogar im Leib spürte, wurde mir klar: So ist es immer. Einem anderen etwas sagen: Wie kann man erwarten, dass es etwas bewirkt? Der Strom der Gedanken, Bilder und Gefühle, der jederzeit durch uns hindurchfließt, er hat eine solche Wucht, dieser reißende Strom, dass es ein Wunder wäre, wenn er nicht alle Worte, die jemand anderes zu uns sagt, einfach wegschwemmte und dem Vergessen übereignete, wenn sie nicht zufällig, ganz und gar zufällig, zu den eigenen Worten passen. Geht es mir anders? dachte ich. Habe ich je einem anderen wirklich zugehört, ihn mit seinen Worten in mich hineingelassen, so dass mein innerer Strom umgeleitet worden wäre?
(Auszug aus dem Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier)
(Auszug aus dem Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier)
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Dienstag, 20. Mai 2008
Flüchtige Gesichter in der Nacht
Am Dienstag, 20. Mai 2008 im Topic 'Literaturkostproben'
Begegnungen zwischen Menschen sind, so will es mir oft scheinen, wie das Kreuzen von besinnungslos dahinrasenden Zügen in tiefster Nacht. Wir werfen flüchtige, gehetzte Blicke auf die Anderen, die hinter trübem Glas in schummrigem Licht sitzen und aus unserem Blickfeld wieder verschwinden, kaum dass wir Zeit hatten, sie wahrzunehmen. Waren es wirklich ein Mann und eine Frau, die da vorbeiflitzten wie Phantasmata in einem erleuchteten Fensterrahmen, der aus dem Nichts auftauchte und ohne Sinn und Zweck hineingeschnitten schien in das menschenleere Dunkel? Kannten sich die beiden? Haben sie geredet? Gelacht? Geweint? Man wird sagen: So mag es sein, wenn fremde Spaziergänger in Regen und Wind aneinander vorbeigehen; da mag der Vergleich etwas für sich haben. Aber vielen Leuten sitzen wir doch länger gegenüber, wir essen und arbeiten zusammen, liegen nebeneinander, wohnen unter einem Dach. Wo ist da die Flüchtigkeit? Doch alles, was uns Beständigkeit, Vertrautheit und intimes Wissen vorgaukelt: Ist es nicht eine zur Beruhigung erfundene Täuschung, mit der wir die flackernde, verstörende Flüchtigkeit zu überdecken und zu bannen suchen, weil es unmöglich wäre, ihr in jedem Augenblick standzuhalten? Ist nicht jeder Anblick eines Anderen und jeder Blickwechsel doch wie die gespenstisch kurze Begegnung von Blicken zwischen Reisenden, die aneinander vorbeigleiten, betäubt von der unmenschlichen Geschwindigkeit und der Faust des Luftdrucks, die alles zum Erzittern und Klirren bringt? Gleiten unsere Blicke nicht immerfort an den Anderen ab, wie in der rasenden Begegnung des Nachts, und lassen uns zurück mit lauter Mutmaßungen, Gedankensplittern und angedichteten Eigenschaften? Ist es nicht in Wahrheit so, dass nicht die Menschen sich begegnen, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen werfen?
(Auszug aus dem Buch von Pascal Mercier "Nachtzug nach Lissabon")
(Auszug aus dem Buch von Pascal Mercier "Nachtzug nach Lissabon")
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